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„Selbsthilfe in Corona-Zeiten

Abstand halten
Datum:
Veröffentlicht: 20.10.20
Die Ereignisse und Einschränkungen rund um den Corona-Lockdown haben sich auch auf die Aktivitäten der Selbsthilfe sehr stark ausgewirkt. Unter anderem haben die pandemiebedingten Herausforderungen der Selbsthilfekoordination (SeKo) Bayern als Landesnetzwerkstelle einige neue Arbeitsfelder beschert.

Weil sich Selbsthilfegruppen nicht mehr treffen dürfen und viele Veranstaltungen abgesagt sind, ist die Sorge unter den Betroffenen groß, wie es für sie in nächster Zukunft weitergeht. Der konsequenten Linie der bayerischen Politik mit weitgehender Schließung des öffentlichen Lebens stimmten die meisten Selbsthilfeaktiven anfangs vorbehaltlos zu. Vor dem Hintergrund, dass in den rund 11.000 bayerischen Gruppen sehr viele Personen durch Vorerkrankungen und/oder höheres Alter zur Risikogruppe gehören, ist dies verständlich. Gleichzeitig stieg bei SeKo Bayern die Zahl der Anrufer – von Menschen, die durch den Verzicht auf Treffen und die fehlende Gemeinschaft nun vereinsamten und sich in ihrer Not alleingelassen fühlten.

Gezwungenermaßen musste auch SeKo Bayern nach und nach eigene Veranstaltungen absagen oder sie aufs nächste Jahr verschieben. Die nächsten Herausforderungen bestanden darin, zu lernen, mit der Planungsunsicherheit umzugehen und gleichzeitig gute, digitale Kommunikationsformen zu entwickeln.

‚Mutmach-Börse‘

Um einzelne Menschen, aber auch Selbsthilfegruppen in dieser Lage weiter zu unterstützen und in Kontakt zu bleiben, initiierte SeKo die ‚Mutmach-Börse‘. Diese regt dazu an, sich mitzuteilen und Gedanken, Gedichte, Buchempfehlungen und Erfahrungen im Umgang mit der Pandemie über die Internetseite www.seko-bayern.de auszutauschen. Nachahmenswerte Aktionen, die von einzelnen Selbsthilfegruppen oder -kontaktstellen ausgehen, werden hier veröffentlicht. Inzwischen wurde die Mutmach-Börse um einen zusätzlichen Informationsteil ‚Selbsthilfe und Corona‘ erweitert. Besonders relevante Informationen für die bayerische Selbsthilfe werden hier laufend aktualisiert.

Viele Aktivitäten digitalisiert

Einige Selbsthilfekontaktstellen in Bayern kreierten – teilweise aus dem Homeoffice heraus – virtuelle Angebote für Selbsthilfegruppen ihrer Region, berieten diese oder regten dazu an. In Mittelfranken wurde eine eigene Plattform für Treffen von Selbsthilfegruppen entwickelt. Andere erprobten und empfahlen geeignete datenschutzkonforme Möglichkeiten oder die Anmietung sicherer ‚Online-Räume‘. SeKo Bayern entschied sich für die Anmietung eigener Server in Deutschland und der Videokonferenzplattform ‚BigBlueButton‘, die eine leichte Bedienung und einen sicheren Datenschutz garantiert. Die bayerischen Selbsthilfekontaktstellen können hierüber eigene Online-Veranstaltungen anbieten.

Initiative ‚Rettungs-Ring‘

Bereits im März gründete eine Betroffene in Neu-Ulm die Online- Selbsthilfe-Initiative ‚Rettungs-Ring‘ für Menschen, die sich schon länger oder aufgrund der Corona-Pandemie in einer seelischen Notlage befinden. Diese haben so die Möglichkeit, mit anderen in Verbindung zu kommen. Inzwischen gibt es ‚Gesprächs-Ringe‘, ‚Beratungs-Ringe‘, ‚Freizeit-Ringe‘, ‚Helfer-Ringe‘ und ‚Kids-Ringe‘ mit mehreren wöchentlichen Angeboten. Der ‚Rettungs-Ring‘ wurde vom Bundespräsidenten mit dem Preis für digitales Miteinander ausgezeichnet.

Virtueller Selbsthilfetreffpunkt Bayern

Seit Anfang Juli bietet SeKo Bayern wöchentlich den ‚virtuellen Selbsthilfetreffpunkt Bayern‘ an. Dieser offene Treff steht allen Selbsthilfeaktiven zur Verfügung und wird ab September monatlich weitergeführt. Zu den Themen gehören persönliche Erfahrungen mit Corona, Alternativen zu Präsenz-Gruppentreffen, Generationswechsel in der Selbsthilfe, Wünsche an die Politik und Selbsthilfeaktivitäten in den Nachbarbundesländern. Die ‚Wünsche an die Politik‘ wurden weitergereicht und haben zu Gesprächen mit einzelnen Fraktionen geführt. Ziel ist es, die Belange der Selbsthilfe künftig besser mitzudenken, zum Beispiel bei einer möglichen zweiten Pandemiewelle.

Wünsche der Selbsthilfe an die Politik waren eine bayerische Selbsthilfebeauftragte, eine zukünftige Nennung der Selbsthilfe in der bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung oder in anderen gesetzlichen Verordnungen, die Finanzierung technischer und digitaler Ausstattung, der Aufbau von Hilfesystemen, sowie der Aufruf des Freistaats an die Kommunen, geeignete Räume für Selbsthilfegruppentreffen möglichst kostenfrei zur Verfügung zu stellen.

Schwierige Phase der Lockerungen

Eine besonders schwierige Zeit für die Selbsthilfegruppen war die Phase der Lockerungen, vor allem für Gruppen aus den Bereichen Sucht und psychische Erkrankungen. In den Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen wurden Selbsthilfegruppen nicht explizit genannt und mussten dadurch weiterhin geduldig sein. Seko Bayern hat immer wieder nachgehakt, wann, ob und mit welchen Hygienemaßnahmen Gruppentreffen wieder möglich sein könnten. Die Frustration einzelner Selbsthilfegruppen hat sich noch dadurch weiter verstärkt, dass in manchen Regionen Ausnahmegenehmigungen für Treffen möglich waren, in anderen nicht. Der Ruf nach einer klaren, einheitlichen Antwort wurde immer lauter, vom Münchner Selbsthilfezentrum wurde sogar eine Online-Petition auf den Weg gebracht, die forderte, dass Selbsthilfe als systemrelevant eingestuft werden sollte. Immer wieder wurde bei den verantwortlichen Ministerien nachgehakt: Ab Mitte Juni durften sich bis zu zehn Personen, Anfang Juli bis zu 50 in Selbsthilfegruppen treffen, natürlich unter Wahrung der Abstandsregeln und mit einem entsprechenden Hygienekonzept.

Raumproblem durch Abstandsregel

Viele Selbsthilfegruppen stehen nun vor dem Problem, entsprechend große Räume zur Einhaltung der Mindestabstände finden zu müssen. Während des Sommers konnten viele Treffen im Freien stattfinden, die Raumnot wird sich jedoch unweigerlich im Herbst/Winter deutlich verstärken und möglicherweise sogar dazu führen, dass sich vereinzelt Gruppen auflösen müssen. Gerade Gruppen mit vielen älteren Teilnehmern könnten ohne Raum und aus Angst vor einer möglichen zweiten Pandemiewelle nicht mehr die Kraft haben, weiter zu bestehen. Sie sind auf Unterstützung, zum Beispiel durch Aufbau von Hilfesystemen bei digitalen Anwendungen, angewiesen.

Weiter alles online?

Positiv zu verzeichnen ist sicherlich, dass durch Corona der Digitalisierungsschub in der Selbsthilfe früher und schneller stattgefunden hat. Dies hat dazu geführt, dass neue Formen des Austauschs erprobt und viele gute Erfahrungen mit Online-Treffen gesammelt wurden. Gerade bei den Themen Augenhöhe und Inklusion sind virtuelle Angebote für beispielsweise mobilitätseingeschränkte Menschen bestens geeignet.

SeKo Bayern bietet seit Juli wieder Präsenzseminare an – mit weniger Teilnehmenden und entsprechenden Hygienekonzepten. Zusätzlich wurde ein Online-Herbstprogramm zusammengestellt: Fortbildungs- und Seminarangebote, eine Veranstaltungswoche zur Stärkung der Selbsthilfe im Suchtbereich von 9. bis 13. November, vier Selbstmanagementkurse ‚Gesund und aktiv leben’ sowie zwei Veranstaltungen zur Zusammenarbeit von Selbsthilfe und Psychotherapie sind in diesem Angebot unter www.seko-bayern.de zu finden.

SeKo-Online versteht sich als Erweiterung und Ergänzung des bestehenden Angebots. Bundesweit gibt es seit einigen Jahren immer mehr virtuelle Selbsthilfeofferten und es ist davon auszugehen, dass dies ein Teil unserer zukünftigen ‚neuen Normalität’ sein wird.

Theresa Keidel und Irena Težak,
Geschäftsführung SeKo Bayern“

Quelle: Keidel, Theresa/Teak, Irena (2020): Selbsthilfe in Corona-Zeiten. KVB-Forum, Nr. 10, S. 24f.